Jahrelang hatte ich Angst,
eine Pilgerreise
überhaupt nur in Betracht zu ziehen...
"Ich bin zu
krank.“
„Ich habe keine
Kraft.“
„Ich habe kein Geld.“
„Ich brauche doch
Lymphdrainage! Und das im Ausland?“
„Was mache ich, wenn
…?"
(und dann
Schwarzmalerei in allen möglichen Varianten)
All diese Fragen
verunsicherten mich die letzten paar Jahre.
Doch der Jakobsweg
zog mich insgeheim immer weiter.
Anfang 2016 fand ich durch Zufall
heraus, dass es auch in Deutschland Jakobswege gibt und dass einer davon auch
noch direkt in meiner unmittelbaren Umgebung verläuft: und zwar die „Via Regia“
bei Merseburg.
Nach kurzer Vorbereitungszeit
lief ich mein erstes Stück am 30.04.2016.
Diese Wanderung war wohl das
Ereignis, das bei mir den Stein ins Rollen brachte. Mein Wunsch nach einer
Pilgerreise nach Santiago de Compostela kam wieder zum Vorschein. Das, was bei
mir in den letzten Jahren nur im Hintergrund gebrodelt hatte, brach sich nun
mit Macht seinen Weg ins Licht. Meine Sehnsucht steigerte sich schnell ins
unerträgliche… Und ich war am Anfang so verzweifelt…
Doch das Wandern tat mir gut.
Ich fand beim Laufen meinen eigenen Rhythmus. Zugegeben: Ein ziemlich langsamer
Rhythmus. Manchmal überholen mich ja sogar Omis^^.
Aber ich kann halt durch die
Schmerzen und die schweren Beine nicht sonderlich schnell Gehen und das musste
ich erst einmal akzeptieren.
Das Gefühl eines eigenen
Rhythmus, die Zeit an der frischen Luft und die Ruhe um mich herum waren eine
ganz neue Erfahrung für mich. Meine Sinne schärften sich. Ich fing an – und das
gefühlt zum ersten Mal in meinem Leben – wirklich
zu SCHAUEN und zu HÖREN. Dadurch begann ich auch, mich an kleinen Dingen zu
erfreuen: an Vogelgezwitscher, an vorbeiziehende Wolken, an Lichtflecken, die
die Sonne durch das Blätterdach auf den Waldboden malt, …
So zog es mich immer wieder auf
die Wanderwege. Und hin und wieder fiel mein Blick auch mal wieder auf den
Jakobsweg nach Santiago de Compostela.
Fast wie ferngesteuert fing ich irgendwann
an, über meine Zweifel nachzudenken und beschäftigte mich mit den Problemen,
die ich sah bzw. befürchtete. Und Ende November geschah dann etwas
Eigenartiges: Ich fasste das erste Mal Mut und dachte darüber nach, ob
das mit der Pilgerreise doch irgendwie gehen würde.
Dazu angeregt hat mich die Psychologin
vom Studentenwerk, bei der ich 1x im Monat zur Beratung gehe. Wir sprachen
über meine Sehnsucht nach dem Jakobsweg und meine Psychologin fragte mich, was
das über meine Persönlichkeit aussagen könnte. Das Ergebnis geht ihr
hier auf den Fotos.
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Die nächsten Tage dachte ich viel
darüber nach. Außerdem versuchte ich andere Leute mit gesundheitlichen
Problemen oder Handicaps zu finden, die auch schon gepilgert sind:
hauptsächlich um mir Mut zu machen und weil ich mir Unterstützung erhoffte.
Dabei wurde mir der Kontakt zu Anne Chantal nahe gelegt, die schon mehrmals mit
Rollstuhl gepilgert ist und auch gerne andere Pilger coacht. Ich war
überwältigt von der Geschichte dieser Frau und glücklich, dass sie mit mir über
Facebook kommunizierte. Sie bat mir ihre Hilfe an und fragte mich, was ich
brauchen würde. Ich erzählte ihr von meiner Krankheit und meinen Problemen und
sie versprach, für mich herauszufinden, wie das mit der Lymphdrainage in
Spanien ist.
In der Zwischenzeit dachte ich weiter über
meine Befürchtungen nach. Bis mir – recht unverhofft – die Erkenntnis kam, dass
diese zum größten Teil nichtig waren:
- Dass ich so langsam war: Na und? Wer würde
mich dazu zwingen, schneller zu laufen? Niemand!
- Dass ich keine 20, 30 oder mehr Kilometer pro
Tag schaffte: Na und? Wer würde mich dazu zwingen, weiter laufen zu
müssen? Niemand! Und ich schaffte ja immerhin um die 12 km pro Tag oder
sogar etwas mehr, ohne dass ich den nächsten Tag zu geschafft war um
weiterzumachen.
- Dass ich kein Spanisch kann: Naja,
mittlerweile konnte ich ein bisschen Spanisch und wollte auch noch weiter
lernen. Außerdem fand ich heraus, dass man mit Englisch ebenso gut klar
kommen soll. Also, warum Angst haben?
- Dass ich kein Geld hab: Zurzeit, ja. Aber
ich könnte noch sparen, hatte meine Sammelaktion bei leetchi.com und würde
zur Not auch einen kleinen Kredit aufnehmen. Meine Sehnsucht war
mittlerweile so groß, dass das Geld keine schwerwiegende Rolle mehr
spielte.
- Dass ich Bedenken wegen der Jahreszeit hatte:
Da legte man mir auf Nachfrage nahe, erst ab März zu gehen, weil die
meisten Pilgerherbergen erst im März öffnen. Außerdem sei das Wetter ab
März besser. Nur nachts gäbe es meistens noch Minustemperaturen. Damit
konnte ich gut leben! Zelten wollte ich eh nicht.
- Dass ich nicht wusste, wie ich hin und zurück
kommen würde: Auch das hatte ich mittlerweile recherchiert. Anreise: Mit
Fernbus oder Mitfahrgelegenheit nach Berlin, dann mit dem Flugzeug nach
Madrid und von dort mit ALSA (Bus) nach Ponferrada. Rückreise: Kann man
vor Ort buchen. Mit dem Bus (wieder ALSA) zu einem Flughafen meiner Wahl,
mit dem Flugzeug nach Deutschland und dann je nach Ankunftsort mit
Fernbus, Bahn oder Mitfahrgelegenheit nach Hause.
- Dass ich nicht wusste, wie ich es schaffen sollte, meinen Rucksack zu tragen: Ich besaß seit November einen Pilgerwagen. Das Problem war also schon gelöst: Ich würde mein Gepäck hauptsächlich ZIEHEN und SCHIEBEN STATT SCHLEPPEN!
Aber eine wichtige Angelegenheit
fehlte noch: Dass ich Lymphdrainage brauche!
Mitte Dezember meldete sich dann
erfreulicherweise Anne Chantal wieder bei mir:
„Ich habe
gefragt wegen der Lymphdrainage. Es ist günstig, ca. 10 Euro. Du musst in den
Herbergen fragen!“, schrieb sie mir.
Nach
dieser Nachricht fiel bei mir der Groschen…
Ich wollte nun unbedingt nach Spanien!
Ein
bisschen Angst habe ich zwar immer noch, aber ich stellte fast,
dass
sie lange nicht mehr so stark war, wie noch vor kurzem!
Da waren noch folgende Befürchtungen übrig geblieben:
- Dass ich zu krank für diese Reise bin: Naja, wer weiß das schon? Es heißt doch auch: „Probieren geht über Studieren!“. Was mich dabei auch ein bisschen beruhigt: Ich habe eine Auslandskrankenversicherung.
- Dass ich keine Kraft habe: Vielleicht nicht im klassischen
Sinne. Aber mit vielen kleinen Schritten habe ich es bis jetzt schon
ziemlich weit geschafft! Warum sollte das auch nicht auf dem Jakobsweg
klappen?
Und plötzlich sagte ich zu mir: Eine Pilgerreise??? Hm... Warum eigentlich nicht?
Es gab keine Ausreden mehr!
Abschließend stellte
ich noch fest,
dass ich wahrscheinlich
die erste Frau mit Lipödemen bin,
die sich so eine
Pilgerreise zutraut.
Ich weiß zurzeit noch
nicht,
ob mich das stolz
machen soll – eben weil ich es mir endlich traue.
Oder –
ob ich Angst davor
haben soll,
weil ich die Erste
bin, die diese Erfahrung machen wird
und ich deshalb
niemanden um Rat fragen kann…